Umwege


Man kommt immer auf den Weg zurück und schneller, wenn man Umwege geht.

Den wollte ich nicht gehen, ich habe mich verirrt. Zwei Kinder in der Karre und eigentlich sollte ich schnell wieder zurück sein. Es war der falsche Weg, an dem ich abbog.

Irgendwann sagte die Große der beiden Kinder, dass wir längst da sein müssten, der Kindergarten käme viel früher. Ich erinnerte mich nicht mehr. Alles war mir vertraut und doch war alles ein klein wenig anders. Ich war abgelenkt. Die Freude über die verworfenen Gehwege, die Wurzeln der mächtigen Bäume am Straßenrand haben das besorgt. Die Freude darüber, dass die Bürger hier noch nicht erfolgreich waren und ordentliche eben gepflasterte Gehwege verlangten, denen natürlich die alten Bäume weichen müssten. Alles erinnerte mich an früher und deshalb war ich wohl abgelenkt, wusste nicht so richtig wo ich war. Die Hände froren inzwischen und auch die Kinder klagten, dass es kalt sei. Wann denn der Kindergarten endlich käme. Er kam nicht. Unbeirrt hoffte ich weiter. Noch kam mir dieser Teil der Stadt nicht vollkommen fremd vor, hier war ich schon einmal.

Als das Größere der beiden Kinder plötzlich rief: „da musst du reinfahren in diesen kleinen Weg“ zwischen den Häusern. Ich war einen Moment unsicher, dieser kleine Weg ähnelte mehr einem Trampelpfad als einem Weg. Ihn kannte ich mit Sicherheit nicht, bin ihn nie gegangen. Aber ich gehorchte dem Kind was ich besonders gerne tat weil Kinder selten etwas verlangen was nicht nur auf sie selber zeigt. Ab jetzt führte die Große mich und erzählte, dass sie mit den anderen Kindern immer diesen Weg gehe, wenn zum Sport gegangen wird. Es war recht kompliziert: rechts, rechts, wieder links und dann diagonal über den Platz. Merkwürdig wie die Erzieher*innen mit den Kindern gehen. Wir kamen an. Die Größere eilte sofort in das Haus und rief mir zu, dass sie winken werde vom Fenster aus wie immer, wenn ich wieder heim gehe. Der Kleine ließ sich wie stets, wenn ich ihn bringe bitten. Es glich mehr einem Betteln an diesem Morgen bis er die Karre verließ. Vielleicht war er auch nur erfroren und steif die Glieder. Bis in den Flur des Hauses schaffte ich es und hier beginnt eigentlich erst meine Geschichte, die verständlich machen soll weshalb solch ein Umweg uns nach vorne auf den eigentlichen Weg schneller bringt als wir glauben; besser als die Anderen Glauben machen. Es dauerte. Der Kleine wollte heute nicht in seinen Gruppenraum. Wie immer war ich geduldig. Aber die Gedanken störten mich, die ständig hereinbrachen und so vernünftig schienen; ich konnte mich nur schwer immer wieder lösen von dem Vorwurf der Erziehung kleiner Tyrannen. Die Medien sorgen dafür, dass alle darüber lesen, sehen und hören. Hier werden alle Sinne angesprochen. Ich wartete, spielte mit ihm, den ich nicht verstand: er lernte erst das Sprechen und dieses war so wunderbar ungeschickt, wie Kinder in diesem Alter wohl alle sind, wenn man sie nicht erzieht. Ich komme zum Kern: Sie war freundlich, eine schöne junge Frau, die wie alle Frauen schön sind, wenn sie mit ihren Kindern unterwegs sind und sich ihnen zuwenden. Sie rief mir zu, lächelte dabei und drückte volles Verständnis für meine Situation aus, die längst überall im Kindergarten bemerkt wurde. Ich solle ihn einfach schnappen und ihn in den Gruppenraum setzen. Das mache sie auch so und die Mutter des Kindes auch, wenn sie um diese Zeit ihn bringe, das geht immer. Ich antwortete ihr, dass ich Zeit hätte aber es versuchen werde. Sie sagte noch, dass ich es gut habe und war schon wieder draußen.

Dem Kleinen, der sich schon in eine Ecke verkroch rief ich zu: „Ich hol dich jetzt, ich schnappe dich“. Er wusste nicht so recht, war voller Übermut und schrie einmal Nein und dann wieder Ja. Ich verstand ihn, er wollte spielen.

Es klappte nicht. Und wieder kamen diese Gedanken der Einreden der modernen Kinderpsychologen. So werden sie Tyrannen, handle. Aber ich war Pädagoge, jedenfalls verstand ich mich so. Natürlich weiß ich, dass diese Psychologen mehr wissen obwohl ich nicht genau weiß, was sie wissen. Von einem Großen, Iwan Petrowitsch Pawlow, habe ich viel gelesen. So seine „Antwort eines Physiologen an die Psychologen“, aber bei diesem so gar nicht ins behavioristische Weltbild passenden verstaubten Mann liest man schon lange nicht mehr. Sie haben ihn für ihren modernen Behaviorismus vereinnahmt, gelesen haben sie bei ihm nicht.

Es war inzwischen eine halbe Stunde vergangen. Man hat mir gesagt, dass die Kinder um 9 Uhr im Haus sein müssen, weil gemeinsam gefrühstückt wird. Das wusste ich aber das Kind nicht, das konnte das Kind noch nicht wissen, es konnte kaum sprechen. Vorsorglich griff ich jetzt zu seinem kleinen Rucksack mit dem er und seine Schwester immer losgehen, wenn es zur Kita geht und holte seine Brotdose heraus. Im Überschwang eines heftigen Lachens rannte er auf mich zu, griff sich die Brotdose und rannte in den Gruppenraum.

Als ich draußen war schaute ich zurück zu den Fenstern. Ich war überrascht:

Dort winkte er; er schien glücklich.

Das war ich auch und kehrte zurück auf den Weg, den ich kannte. Auf dem Weg erinnerte ich mich wieder an die Geschichte mit den Tyrannen. Das sind sie vielleicht, das werden sie vielleicht. Aber es kann auch ganz anders sein. Vielleicht sind sie viel klüger als wir obwohl sie noch keine innere Sprache haben, die zum Denken unbedingt erforderlich ist. Vielleicht wird diese Sprache falsch ausgebildet und sie rebellieren später nur noch: als Tyrannen gegen den Tyrannen Arbeit, der ihren Müttern und Väter keine Zeit erlaubt für sie, für unsere Kinder. Kinder, werdet Tyrannen !

Verweigert den Gehorsam den Tyrannen gegenüber, die heute sich längst millionenfach vermehrt haben und euren Eltern aufgeben, wie sie euch erziehen sollen. Gehorcht nicht, fürchtet euch nicht; sie wissen, dass ihr immer die Eltern lieben und ehren werdet weil die Natur das so eingerichtet hat. Stellt ihnen euer kindliches und deshalb unschuldiges Bild, das ihr gemeinsam mit allen Kindern gemalt habt ,von einer Welt gegenüber, in der nur ein Tyrann herrscht, ähnlich wie er sich das gedacht hat, den eure Eltern Jesus genannt haben; nur anders: greifbar, verletzbar. Ihr werdet ihn bestimmt nicht ans Kreuz nageln sondern euch als Kinder vor ihn stellen. Keiner wird mehr zu ihm vordringen können, er allein soll herrschen. Ihr könnt ihn beschützen. Wenn eure Eltern fragen weshalb ihr ausgerechnet ihn beschützt könnt ihr ihnen sagen, dass ihre Tyrannen hässlich sind. Sie können ja noch nicht einmal Bilder malen wir ihr sie malt. Sie sind phantasielos und grau. Hässlich sind sie.

Euer Tyrann ist anders; er kann gar nicht anders. Wenn er etwas befiehlt was euch nicht passt dann seid wirklich Kinder, unbeherrscht: Wendet euch zu ihm hin und schreit, trampelt, kratzt, trotzt, wir ihr es gewohnt seid solange euch das keiner ausgetrieben habt. Die Natur hat euch mit diesen Gaben ausgestattet; sagt das euren Eltern, es entschuldigt euch.

Er wird über seine Entscheidung nachdenken. Denn auch ein Tyrann braucht irgendwann Ruhe, wenn er einer von uns Menschen ist.

Vom Kindergarten zurück.

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